Altes Gymnasium Bremen

Feind ist, wer anders denkt - ein Besuch im Stasi-Gefängnis in Berlin-Hohenschönhausen

Perfide und ausgeklügelt Der 62-Jährige erklärt den Schülern hier vor allem das, was nicht zu sehen ist: die perfiden und ausgeklügelten Methoden, Menschen zu demütigen und zu zermürben, ihre Widerstandskraft zu brechen, sie zu isolieren, ihnen ihr Zeitgefühl zu nehmen. Um ihr Ziel zu erreichen, versuchten die Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in vielen Fällen sogar, Freundschaften und Liebesbeziehungen zu zerstören. Später, im Stasi-Untersuchungsgefängnis, wird er den Schülern das Ampelsystem zeigen: Lampen in Grün und Rot, die auch sicherstellen sollten, dass sich verhaftete Freunde oder Pärchen nicht zufällig im Gang begegneten. Doch bei den Ampeln ist die anderthalbstündige Führung in Hohenschönhausen schon kurz vor ihrem Ende. Zu Tour-Beginn im Besucherzentrum, umgeben von einigen Stasi-Devotionalien, fängt Wulkau quasi bei Null an. Er weiß, bei Schülergruppen kann er in aller Regel kein Detailwissen über die DDR voraussetzen. Im Schnelldurchlauf erläutert er die grundlegenden Unterschiede im Justizwesen von DDR und Bundesrepublik. Klar, für die Gymnasiasten sind die Geschichten am Rande besonders spannend. Etwa, als der frühere Dissident erzählt, dass das Gebiet rund um das Gefängnis zu DDR-Zeiten Sperrgebiet war. Ja, dass das Areal auf Ost-Berliner Stadtkarten gar nicht eingezeichnet, sondern nur ein weißer Fleck war. Gebracht hat diese Geheimhaltung nichts. "Das ist ein Stasi-Nest, das pfiffen die Spatzen von den Dächern", erzählt Wulkau.
Im Sperrgebiet lag auch eine Zentrale des "operativ-technischen Sektors" der Stasi. "Können Sie sich vorstellen, was ein operativ-technischer Sektor ist?", fragt er. Nein, das können die Schüler natürlich nicht wissen. "Sie haben doch bestimmt mal James Bond gesehen und kennen Q, den Waffenmeister?" Er gibt die Antwort gleich mit: "Da haben die Qs des MfS gearbeitet." Sie waren unter anderem für die Herstellung von Abhöranlagen, versteckten Kameras und falschen Pässen zuständig. Ihre letzte Entwicklung, kurz vor dem Zusammenbruch des selbsternannten Arbeiter- und Bauernparadieses: ein BH mit Minikamera. Die Idee hätte tatsächlich von Q sein können...
Das "U-Boot" Nach der Einführung geht es über lange, triste Gänge in das "U-Boot". Hier richtete die sowjetische Besatzungsmacht Ende 1946/Anfang 1947 ihr zentrales Untersuchungsgefängnis ein. Ab März 1951 übernahm das ein Jahr zuvor gegründete MfS das Kellergefängnis von den Sowjets und nutzte es von nun an als zentrale Untersuchungshaftanstalt. Zu den Inhaftierten zählten neben mutmaßlichen NS-Schergen vor allem tatsächliche oder vermeintliche politische Widersacher: Vertreter von SPD, CDU und LDPD (Liberal-Demokratische Partei Deutschlands), aber auch Kommunisten, wenn sie nicht als linientreu galten. Zu denen gehört auch Kurt Müller. Er ist 1949 stellvertretender Vorsitzender der KPD in der Bundesrepublik und Abgeordneter des Bundestags. Im März 1950 wird Müller unter einem Vorwand in die DDR gelockt, dort verhaftet und nach Hohenschönhausen gebracht. Hier wird er unter anderem von Erich Mielke (dem späteren MfS-Chef) verhört.
In einem Brief aus dem Jahr 1956, gerichtet an den DDR-Ministerpräsidenten Otto Grotewohl, schildert Müller die unmenschlichen Haftbedingungen: "Mielke hat seine Verhöre in der Zeit von Ende März bis Mitte August 1950 stets nur nachts durchgeführt. Sie begannen täglich immer um 22 Uhr abends und endeten zwischen 4 und 6 Uhr morgens. Dabei musste ich bei allen Verhören während der ganzen fünf Monate immer die ganze Nacht über stehen. Tagsüber aber durfte ich nach 6 Uhr morgens nicht mehr schlafen. Außerdem gab es ganze Perioden von Tag-und-Nacht-Verhören. Diese Perioden dauerten 8 und 10 Tage, in denen man überhaupt nicht schlafen durfte. (...) Fünf Monate lang wurde ich im Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen in einer Wasserzelle gehalten. Das war eine Zelle ohne Fenster und ohne jedes Möbel, auf deren Fußboden immer etwa 2 Zentimeter Wasser stand. Dann war ich in einer Zelle, etwas größer als eine Telefonzelle, eingesperrt. Ein anderes Sinnbild des "humanen Strafvollzuges", von dem Mielke mit Hinweis auf die Verfassung ironisch sprach, war eine Zelle in der Größe von 1,80 mal 1,80 Meter, ohne Fenster, mit je einer Pritsche rechts und links von 80 cm Breite, so dass in der Mitte ein schmales Handtuch als Gang blieb. An der Decke dieser Zelle war ein überstark saugender Ventilator angebracht, der Tag und Nacht ununterbrochen lief. Dieses Inquisitionsverlies des 20. Jahrhunderts ist die Zelle Nr. 60 in Berlin-Hohenschönhausen, in der ich längere Zeit gehalten wurde, und die auch nach der Übergabe dieses Gefängnisses an die deutsche Staatssicherheit bestehen blieb." Schauprozesse Es war die Zeit des Kalten Krieges und die Zeit der stalinistischen Säuberungen in den kommunistischen Parteien im Nachkriegs-Europa. Müller sollte zu einem der Hauptangeklagten eines geplanten Schauprozesses in der DDR gemacht werden. Die Vorwürfe gegen ihn waren bizarr: Er soll Agent der Gestapo gewesen sein (obwohl er von 1934 bis 1945 in verschiedenen Zuchthäusern und Konzentrationslagern der Nazis inhaftiert war), Terrorakte gegen Stalin geplant haben und auch noch für die Amerikaner spioniert haben.
Wulkau schildert den Schülern Müllers Schicksal. Dann stellt er klar: "Es ging hier nicht um die Ermittlung einer Schuld." Anschließend liest er Zitate von Stalin, Dserschinski (Leiter des Bolschewiki-Geheimdienstes Tscheka) und Lawrenti Berija (Chef der sowjetischen Geheimpolizei NKWD) vor. Der Tenor ist immer ähnlich: Lieber den Tod von zehn Unschuldigen in Kauf nehmen, als dass ein Schuldiger entwischen kann.
Immer sachlich, aber auch mit eindringlichen Worten erläutert Wulkau das perfide System. Die Häftlinge sollten regelrecht entmenschlicht und gebrochen werden. Er erzählt das Erlebnis eines Inhaftierten: Der wird plötzlich aus der Zelle geholt und "seinem" Stasi-Offizier vorgeführt, der ihn zuvor schon mehrfach verhört hatte. Er solle jetzt sein Geständnis unterschreiben. "Aber ich habe doch gar nichts gestanden", entgegnet der Häftling. Der Mann vom MfS antwortet in Seelenruhe: "Das ist egal, ich habe Zeit. Von mir aus kannst du da unten verfaulen. Das interessiert ja doch niemanden." Die Schüler ahnen schon, was dann passierte: Der Mann hat unterschrieben.
Was bei den Haftbedingungen in den 50er-Jahren keine Überraschung war: In der Zelle gab es nur eine Holzpritsche und einen Notdurft-Kübel. Die Gefangenen durften häufig weder liegen noch schlafen. Zu essen gab es meist nur Kommissbrot und Kohlsuppe. Die Räume waren feucht und muffig. Wulkau: "Manche Frauen hatten sogar Schimmelpilze in den Haaren." Die Schüler verfolgen diese Schilderungen angespannt, manchen bleibt ein Kloß im Halsstecken... Eine der Gymnasiastinnen flüstert ihrer Freundin zu: "Das ist ja eklig!" Bett, Klo, Tisch, Holzstuhl Wulkau und die Gruppe verlassen den Kellertrakt. Sie gehen durch einen Innenhof. Graue Mauern, überall vergitterte Fenster. Nur die pinkfarbenen Rosen in der Mitte des Hofes wollen nicht in diese Tristesse passen. In Hufeisenform ist der 1961 fertiggestellte, dreistöckige Neubau angelegt. Ab jenem Jahr hatten die Zellen im "U-Boot" ausgedient. Lange Flure ziehen sich durch die Flügel des Neubaus. Rote Alarmdrähte schlängeln sich an den Flurwänden über die blau-grauen Zellentüren mit ihren wuchtigen Beschlägen. Die rund 100 Zellen sind so belassen, wie sie im Frühjahr 1990 aussahen, als nach der Friedlichen Revolution in der DDR die letzten Gefangenen freikamen: Bett, Klo, Tisch, Holzstuhl.
"Und - wie finden Sie die Zellen?", fragt Peter Wulkau. Die Bremer Schüler drucksen ein wenig herum. Der Tourleiter gibt selbst die Antwort: "Also, wenn Sie ehrlich sind, sind die doch gar nicht so schlecht." Die angehenden Abiturienten nicken nach und nach mit den Köpfen. Natürlich liegt es dem früheren Regimegegner fern, hier irgendetwas zu verniedlichen. Vielmehr versucht er, den Schülern zu vermitteln, wie die veränderten Methoden der Untersuchungshaft sich auch äußerlich ausdrückten. Nach dem Mauerbau am 13. August 1961 wurden in Hohenschönhausen vor allem Menschen festgehalten, die aus der DDR fliehen oder ausreisen wollten oder in Opposition zur Einheitspartei standen.
Die oft rohe physische Gewalt der 50er-Jahre wurde seit den 60ern durch raffinierte psychologische Methoden ersetzt. Stark vereinfacht hieß das: Zuckerbrot und Peitsche. Die Haftbedingungen wurden etwas erleichtert. Bei Wohlverhalten gab es Vergünstigungen, zum Beispiel waren dann auch Bücher in der Zelle erlaubt. Andererseits ließ man die Gefangenen über den Ort der Haft bewusst im Unklaren. Systematisch wurde ihnen das Gefühl gegeben, einem allmächtigen Staat vollkommen schutzlos ausgeliefert zu sein. Von der Außenwelt hermetisch abgeschnitten und häufig auch von Mitgefangenen streng isoliert, wurden die Inhaftierten oft monatelang von Verhörspezialisten vernommen, um sie zu Geständnissen und belastenden Aussagen zu bewegen. Wulkau verblüfft die Schüler mit einer Zahl: Nur 600 zugelassene Rechtsanwälte gab es im Jahr 1988 auf dem Territorium der DDR.
Nun zeigt der Ex-Häftling auf eine große Wandtafel mit einer Biografie. Dann dreht sich Wulkau ein wenig zur Seite und zeigt auf die Zellentür mit der Nummer 117. "In der Zelle war Jürgen Fuchs neun Monate lang eingesperrt." Der Schriftsteller und Psychologe war einer der bedeutendsten Kritiker des SED-Regimes. 1950 in Reichenbach im Vogtland geboren, begann er 1971 ein Studium der Sozialpsychologie an der Universität Jena. 1973 trat er der SED bei. Sein Ziel: Die DDR von innen her zu verändern. Fuchs veröffentlichte gesellschaftskritische Lyrik und Prosa. Schon bald wurde er vom Ministerium für Staatssicherheit "operativ bearbeitet".
Jürgen Fuchs verhaftet Nach einem Auftritt mit den Liedermachern Bettina Wegner und Gerulf Pannach wurde Fuchs 1975 aus der Staatspartei ausgeschlossen. Er zog mit seiner Frau und seiner gerade geborenen Tochter in das Gartenhaus des Dissidenten Robert Havemann. Nach der Zwangsausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann im November 1976 wurde Fuchs auf der Fahrt zum Ostberliner Büro des "Spiegel" verhaftet und nach Hohenschönhausen gebracht. Dort war er dann neun Monate lang der Stasi ausgeliefert. Den Psychoterror, den er in U-Haft erlebt, schildert er 1991 im "Spiegel": "Am 26. 11. 1976 beginnt das MfS einen Angriff. Ich werde mit Ergebnissen von Haussuchungen bei Freunden konfrontiert, ebenfalls mit einigen ihrer Aussagen. Bis Mitte Dezember "schwimme" ich, versuche beschwichtigend zu argumentieren. Vor allem will ich vermeiden, das "Verbringen" von Manuskripten nach West-Berlin in Protokollen zu thematisieren. Dies gelingt mir. Dennoch eine schwere Zeit. (...) Ständige Verhöre, auch Gebrüll, Lügen und Drohungen gegen die Familie." Die Zeit der Haft wurde für Fuchs zu einem Schlüsselerlebnis. Er beschrieb sie später auf eindrucksvolle Weise in seinem Buch "Vernehmungsprotokolle".
Im August 1977 wurde der Dissident schließlich nach West-Berlin ausgebürgert, wo er bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft die aufkeimende DDR-Opposition unterstützte. Auch im Westteil Berlins wurde er deshalb noch jahrelang von Stasi-Mitarbeitern bespitzelt und mit sogenannten "Zersetzungsmaßnahmen" überzogen. Vor seinem Haus explodierte eine Bombe, ein anderes Mal wurden die Bremsschläuche seines Autos durchschnitten. Fuchs starb 1999 an den Folgen einer Blutkrebserkrankung, Kurz vor seinem Tod äußerte er die Vermutung, dass die Krankheit womöglich durch radioaktive Substanzen ausgelöst worden sei, die ihm die Stasi zugeführt haben könnte. Dieser Verdacht konnte jedoch bis heute nicht erhärtet werden. "Sie kennen doch das Bild von der römischen Göttin der Gerechtigkeit und des Rechtswesens, Justitia. Warum trägt die wohl eine Augenbinde?" Mit solchen Fragen bezieht Wulkau die jungen Besucher aus der Hansestadt immer wieder mit in seine Erzählung ein. Klar: Das Recht soll ohne Ansehen der Person (Augenbinde), nach sorgfältiger Abwägung der Sachlage (Waage) gesprochen und schließlich mit der nötigen Härte (Richtschwert) durchgesetzt werden.
Immer noch keine Antwort! Diesem Idealbild setzt Wulkau die realen Verhältnisse in der DDR gegenüber. Er spricht Lara an. Wie wäre es ihr ergangen, wenn sie - wie viele der Insassen in Hohenschönhausen - wegen versuchter Republikflucht in Untersuchungshaft gesessen hätte? Lara dürfte schon in den ersten Wochen der Haft einen Brief an die Eltern schreiben. Vielleicht ein Hoffnungschimmer, vielleicht ein Keim für das Gefühl, doch nicht ganz allein zu sein. Aber der Brief wäre nie bei bei Laras Eltern angekommen. Irgendwann würde sie nachfragen: "Immer noch keine Antwort?" "Nein", würde ein MfS-Mitarbeiter antworten. Die Eltern wollten keinen Kontakt mehr zu Lara haben. Sie seien bestürzt über das kriminelle Handeln ihrer Tochter, die versuchte Republikflucht sei ein Verrat an der DDR. Nichts von alledem würde wahrscheinlich stimmen. Doch genau so lief die gezielte Desinformation von Häftlingen ab. Wulkau schildert Details aus dem Alltag in Hohenschönhausen. Geprägt war er von Langeweile und Reizarmut. Eine unendliche Abfolge von Verhören, Mahlzeiten und Nachtruhen. Von 20 Uhr bis 6 Uhr morgens war Schlaf- und Ruhezeit. Die Inhaftierten mussten auf dem Rücken liegen. Die Hände mussten auf der Bettdecke liegen. Von der Zellentür aus musste das Gesicht eindeutig von den Wärtern zu sehen sein. Diese Vorschriften waren keine Schikane, sie waren eine "Fürsorge der besonderen Art": So sollten Selbstmorde verhindert werden, solange der Untersuchungshäftling noch nicht geplaudert hatte.
Persönliche Gegenstände in der Zelle waren nicht erlaubt. Sie mussten bei Antritt der U-Haft im "Erkennungsdienstlichen Raum" abgegeben werden. Dort wurden die Personalien festgehalten, die Gefangenen mussten eine entwürdigende Leibesvisitation über sich ergehen lassen. Dann wurden die Fingerabdrücke genommen, ja sogar eine Geruchsprobe in Einmachgläsern konserviert. Schließlich erhielt jeder Häftling einen blauen Trainingsanzug. "Hat man die persönlichen Gegenstände zurückbekommen?", fragt einer der Schüler. "Natürlich", kann sich Wulkau ein Schmunzeln nicht verkneifen, "die DDR war ja sehr preußisch, in der Asservatenkammer wurde alles ganz penibel aufbewahrt." Gegen Ende der Führung zeigt Peter Wulkau den Schülern eines der vielen Verhörzimmer. Blass-gelbe Tapeten an den Wänden, sparsames Mobilar, ein mausgraues Telefon mit Wählscheibe auf dem Schreibtisch. Das Zimmer ist betont steril - die Untersuchungshäftlinge hatten keine Chance, sich irgendwie abzulenken. Hoffnung aus Prag Im Vernehmungsraum erzählt der Zeitzeuge seine Geschichte. Wie viele junge Menschen in der DDR blickt Wulkau im Jahr 1968 hoffnungsvoll auf die Tschechoslowakei. Es ist die Zeit des "Prager Frühlings". Die Reformkommunisten in Prag versuchen einen eigenen Weg zu gehen - unabhängig von Moskauer Direktiven. Sie wollen einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz". Man merkt Wulkau an, dass ihn jene Zeit immer noch ein wenig aufwühlt. "Ich wollte Meinungsfreiheit, ich wollte Reisefreiheit. Ich wollte das, was Alexander Dubcek (Anmerkung der Redaktion: Kommunistischer Parteichef in der CSSR) auch wollte. Das wollte ich, und das wollten andere Studenten auch." Der junge Mann, damals 20 Jahre alt, studiert Philosophie an der Universität Leipzig. Für ihn und auch für andere Studenten ist die gewaltsame Niederschlagung des "Prager Frühlings" durch Truppen des Warschauer Pakts ein einschneidendes politisches Erlebnis. Es wird viel darüber diskutiert. Das MfS beginnt nun verdeckte Ermittlungen gegen elf Personen (Operation "Revisionist"). Wulkau steht in Verdacht, die Gruppe anzuführen.
Eine Mitstudentin ("IM Janette") denunziert ihn als politisch nicht konform. Wulkau wird im Mai 1970 exmatrikuliert. "Unwürdigkeit wegen revisionistischer Anschauungen", lautet das "Vergehen" in bestem DDR-Amtsdeutsch. "Das hieß nie wieder studieren. Ich wurde beruflich zersetzt", erklärt Wulkau den Schülern die Folgen des Ausschlusses von der Universität. Er muss nun in einer Chemiefabrik arbeiten.
Mit Frau und Kind kehrt Wulkau 1974 in seine Geburtsstadt Magdeburg zurück. Doch das MfS bleibt ihm auch dort auf den Fersen. Wulkau arbeitet in einem "Arbeitskreis Marxismus" in der Evangelischen Studentengemeinde mit. Die Familie stellt mehrere Ausreiseanträge. Das macht Wulkau bei der Spitzelbehörde noch verdächtiger.
1977 schreibt er den Roman "Noch nicht und doch schon". Es ist eine Ich-Erzählung über die Schwierigkeiten einer Liebe in einem System der Unterdrückung. Es ist ein politisches-satirisches Buch, das zu jener Zeit in der DDR keine Chance hatte, veröffentlicht zu werden. Der damals 29-Jährige vertraut das Manuskript einem ausländischen Diplomaten an - den er für einen Freund hält. Er soll das Manuskript zu einem Verlag nach Hamburg schaffen. Was Wulkau nicht weiß: Sein "Freund" arbeitet bereits seit zwei Jahren als "Inoffizieller Mitarbeiter" (IM) für die Stasi. So landet der Roman nicht im Buchladen, sondern direkt in der Stasi-Zentrale in der Ostberliner Normannenstraße. Der Spitzel bekommt für seine Dienste gegen Peter Wulkau 1100 Ost-Mark nebst Spesen. Im März 1978 schlägt die Stasi in Magdeburg zu. Wulkau wird verhaftet, nach sieben Monaten Untersuchungshaft wird das Urteil verkündet: Viereinhalb Jahre Haft wegen staatsfeindlicher Hetze. Auch während der folgenden Zeit im Cottbusser Gefängnis lässt die Stasi den Dissidenten nicht in Ruhe. Ein "Zelleninformator" wird auf ihn angesetzt. Beide interessieren sich für Opernmusik. Das schafft eine Gesprächsbasis, das weckt Vertrauen. Doch der Zellenkompagnon war mit seiner Familie an der Grenzübergangsstelle Marienborn aus dem Kofferraum eines Mercedes geholt worden. Während der U-Haft hatte ihn die Stasi als Mitarbeiter angeworben - "Wiedergutmachungsgründe".
Die rettende Amnestie Peter Wulkau hat Glück im Unglück. Im Zuge einer Amnestie kommt er im Dezember 1979 vorzeitig frei. Das MfS beobachtet ihn natürlich weiterhin. Am 28. Juni 1981 kann er endlich die DDR verlassen - wie viele andere Regimegegner auch, hatte ihn die Bundesrepublik freigekauft. Später wird Peter Wulkau, heute Publizist und Projektmanager, erfahren, dass die Stasi insgesamt 5400 Seiten Material über sein Leben gesammelt hatte. Vor zwei Jahren ist das Manuskript wieder aufgetaucht. Es lag in irgendwelchen Stasi-Beständen. Die Schüler wollen wissen, ob er es nach all den Jahren nun doch noch veröffentlicht. "Nein", sagt Peter Wulkau und klingt dabei ein bisschen traurig, "die Zeit ist über das Buch hinweggegangen." Der Zeitzeuge blickt auf seine Armbanduhr. Die anderthalb Stunden sind um. Er möchte noch eine Bitte an die Schüler aus Bremen loswerden. Und die ist angesichts seiner Biografie bemerkenswert: "Schauen Sie nach vorn, nicht zurück. Was hier passiert ist, das ist Geschichte. Aber nehmen Sie bitte die Erkenntnis mit auf den Weg zurück nach Bremen: Demokratie braucht Zivilcourage."

Norbert Holst (Weser-Kurier) ... 03.10.2010

zurück zur Übersicht