Der Glaube ist nicht entscheidend
Mit einem Besuch in der Vorklasse am Alten Gymnasium hatte der Lehrer Ingo Matthias die Befragung angeregt. Er habe die Jugendlichen, die in der Vorklasse Deutsch lernen, gefragt, was ihnen denn wichtig sei, erzählt der 15-jährige Hamid Ebrahimi, der in Oslebshausen wohnt. Er hat sich mit der 15-jährigen Lelav Hafez aus Gröpelingen, dem 16-jährigen Ayman Ayoub aus Horn und der Schülersprecherin Charlott Hallier (17) aus Findorff für die Umfrage zusammengetan. 25 Werte haben die vier zusammengetragen und die Vorklassenschüler, aber auch Gymnasiasten der neunten und zehnten Klassen, gebeten, ihre persönlichen Ranglisten zu erstellen. Bei den Schülerinnen und Schülern der Vorklassen stehe mit 9,8 Punkten Sicherheit ganz oben auf der Rangliste, stellte Ayman Ayoub die Ergebnisse vor. Das liege daran, dass die meisten jungen Flüchtlinge erfahren mussten, wie es ist, ohne Sicherheit zu leben. „Einige von uns haben schreckliche Dinge erlebt“, sagte Ayman Ayoub im Plenum und erzählte von seinen eigenen Erfahrungen. Im August 2013 sei er gerade auf dem Weg von der Schule nach Hause gewesen, als die Bomben gefallen seien. „Ich habe mich unter einem großen Stein versteckt“, erzählte er. Vier Stunden lang habe er dort ausgeharrt. Als der Luftangriff vorüber gewesen und er aus der Deckung gekommen sei, habe sich ihm ein furchtbares Bild geboten.
Platz zwei der drei wichtigsten Werte in der Vorklasse ist Toleranz mit 9,7 Punkten. Auch dabei spielt die Flucht eine Rolle, denn die Vorklassenschüler sind Fremde in einem neuen Land. Sie wünschten sich, akzeptiert zu werden, und hofften auf ein multikulturelles Zusammenleben, erklärte Ayman Ayoub bei der Präsentation. Auch Platz drei, Solidarität, mit 9,6 Punkten hänge damit zusammen.
Bei den Zehntklässlern sähen die Top 3 ein wenig anders aus, sagte Lelav Hafez. Ihnen sei Gerechtigkeit mit 9,5 Punkten am wichtigsten, gefolgt von Respekt und Frieden mit je 9,2 Punkten. Warum das so ist, haben die Schüler nicht gefragt. Bei den Neuntklässlern bietet sich noch ein anderes Bild. Frieden, Freiheit und Familie stünden ganz oben, sagte Charlott Hallier.
Am anderen Ende der Rangliste sind sich die Schülerinnen und Schüler der Regelklassen ziemlich ähnlich: Die Neuntklässler halten Kultur, Patriotismus und den Glauben für nicht so wichtig. Bei den Zehntklässlern sind es Reichtum, Patriotismus und Glaube. Die Schülerinnen und Schüler der Vorklasse messen Vielfalt, Höflichkeit und Reichtum nicht so viel Gewicht bei.
Die größte Überraschung sei jedoch der geringe Stellenwert des Glaubens in der Vorklasse. „Der Glaube hat bei uns auch nicht so viel Bedeutung“, sagte Hamid Ebrahimi. Er habe es nur auf Platz 19 von 25 geschafft. Dabei habe doch jeder, einschließlich der Vorklassenschüler selbst, eine eigene Vorstellung davon. In Sachen Pünktlichkeit taten sich manchmal Abgründe auf. Und Vorklassenschüler fanden es deutlich wichtiger als die Regelklassen-Schüler, nicht zu spät zu kommen.
Zwei Monate lag haben die Schülerinnen und Schüler an der Befragung und der Auswertung der Umfrage gearbeitet. Vor der Präsentation auf der Bühne in der Aula des Alten Gymnasiums bekamen einige Lampenfieber. „Ich habe zum ersten Mal überhaupt einen Vortrag gehalten“, sagte Lelav Hafez.
Vor Publikum zu sprechen, gehöre einfach nicht zur Schulkultur beispielsweise in Syrien, sagte Ayman Ayoub. Ingo Matthias war sichtlich stolz auf die Jugendlichen, die auf der Bühne standen. „Das fand ich schon beeindruckend“, sagte der Lehrer – auch wegen der kurzen Vorbereitungszeit und der Offenheit der Vorklassenschüler, die von ihren Erfahrungen berichtet haben.
Im Februar beginnt am Alten Gymnasium eine neue Vorklasse. Die bisherigen Schülerinnen und Schüler aus dieser Gruppe wechseln dann in die Regelklassen der Schule. Ganz neu wird nicht alles für sie sein. Auf einer gemeinsamen Freizeit in einem Selbstversorgerhaus in Ristedt haben sich die künftigen Klassenkameraden schon kennengelernt. Und beim Reden über Werte.
Gruppen, die sich die begleitende Ausstellung anschauen möchten, sollten sich im Sekretariat des Alten Gymnasiums unter 361-16990 anmelden.
„Das fand ich schon beeindruckend.“ Ingo Matthias, Lehrer
Weser-Kurier ... 16.01.2017